Gesundheit in Deutschland: Hohe Ausgaben, schwache Ergebnisse, Leistungen mit fragwürdigem Nutzen
Gesundheit in Deutschland: Hohe Ausgaben, schwache Ergebnisse, Leistungen mit fragwürdigem Nutzen

Zwei Analysen haben das deutsche Gesundheitssystem auf seine Effizienz hin untersucht und kommen zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitsindikatoren in Deutschland trotz hoher Investitionen in das Gesundheitswesen hinter dem vieler europäischer Nachbarn zurückliegen. Das liegt in Teilen auch an einer Überversorgung durch unangemessene medizinische Leistungen. Wir haben die beiden Arbeiten zusammengefasst; im Anschluss kommentiert Stefan Reis die Ergebnisse.
Deutschland gehört zu den wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Das Sozialsystem ist gut ausgebaut, die Gesundheitsausgaben pro Kopf sind die dritthöchsten innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Trotzdem bleiben die Gesundheitsindikatoren des Landes hinter denen vergleichbarer europäischer Staaten zurück. Die Menschen sind kränker und sterben früher. Wie kann das sein?
Eine in der Fachzeitschrift Lancet Public Health erschienene gesundheitspolitische Übersichtsarbeit unter der Leitung von Prof. Dr. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS kommt zu einem ernüchternden Ergebnis [1]. Demnach hat Deutschland ein strukturelles Problem in der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Statt Krankheiten zu verhindern, konzentriert sich das System zu sehr auf deren Behandlung – und das mit zum Teil ineffizienten Strukturen.
Die Wissenschaftler*innen sehen drei Hauptprobleme:
- Fehlende zentrale Steuerung – Deutschland hat keine starke Institution, die Public-Health-Maßnahmen koordiniert. Stattdessen herrscht ein Flickenteppich aus Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, der zu schlechter Abstimmung und ineffizienter Mittelverteilung führt.
- Zu wenig Prävention, zu viel Reparaturmedizin – Die Krankenkassen investieren Milliarden in hochspezialisierte Behandlungen, während die Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin ein Nischendasein fristet.
- Lobbys verhindern wirksame Maßnahmen – Zuckersteuer? Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel? Regulierungen für Tabak und Alkohol? In Deutschland sind diese Maßnahmen entweder abgeschwächt oder nie umgesetzt worden – oft unter dem Einfluss wirtschaftlicher Interessen.
„Die Folge ist ein Gesundheitssystem, das zwar enorm teuer ist, aber zu wenig für die langfristige Gesundheit der Bevölkerung tut“, sagt Erstautor Zeeb.
Nachteile föderaler Strukturen
Neben einigen Vorteilen wie dem Spielraum für eigene Schwerpunktsetzungen haben die föderalen Strukturen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung auch Nachteile. Zu oft werden Gesundheitsdaten unkoordiniert erhoben und sind nicht ausreichend miteinander verbindbar – ein Problem, das sich während der Covid-19-Pandemie besonders deutlich zeigte.Die Autor*innen und Autoren der Arbeit schlagen vier zentrale Reformen vor:
Die Autor*innen und Autoren der Arbeit schlagen vier zentrale Reformen vor:
- Eine starke Identität für Public Health entwickeln – Deutschland braucht eine kohärente Vision für Gesundheitspolitik, die Prävention und Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt stellt.
- Eine nationale Public-Health-Strategie aufstellen – Gesundheitsförderung darf nicht länger ein Flickwerk bleiben, sondern muss systematisch und sektorübergreifend gedacht werden.
- Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen – Neben dem Gesundheitswesen müssen auch Bildung, Arbeit und Umweltpolitik verstärkt auf präventives Handeln ausgerichtet werden.
- Kommerzielle Interessen regulieren – Die Politik muss sich trauen, gesundheitsschädliche wirtschaftliche Interessen stärker zurückzudrängen, sei es bei Ernährung, Alkohol oder Tabak.
Deutschland muss umdenken
Die Wissenschaftler*innen dieser Analyse betonen, dass der Status quo nicht nur ein Problem für die Gesundheit der Bevölkerung ist, sondern auch für die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Die Kosten für das Gesundheitssystem steigen seit Jahren, während die Krankenkassen immer wieder Beitragserhöhungen ankündigen müssen. Dieses System könne sich Deutschland auf Dauer nicht leisten. Allerdings mache ihre Analyse deutlich, dass Deutschland zwar die Mittel habe, um ein gesünderes und effizienteres System aufzubauen – es würde aber bislang der politische Wille fehlen, die notwendigen Reformen anzugehen.
Überversorgung im deutschen Gesundheitssystem: unangemessene medizinische Leistungen identifiziert
Zu den steigenden Kosten tragen auch medizinische Leistungen mit fragwürdigem Nutzen bei. Ein Forschungsteam der TU Berlin hat konkret 24 Leistungen mit fragwürdigem Nutzen hinsichtlich Ausmaß und Kosten in einer weiteren Analyse identifiziert. Dazu zählen beispielsweise die Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfekten, die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose oder die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion –also medizinische Leistungen, die im deutschen Gesundheitssystem häufig erbracht werden, obwohl ihr Nutzen für die Patienten fraglich ist.Ihre Auswertung von Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse ergab, dass von 10,6 Millionen untersuchten Leistungen jährlich zwischen 4,0 bis 10,4 Prozent als medizinisch unangemessen eingestuft werden können. Die daraus entstehenden direkten Kosten belaufen sich im ambulanten Sektor der Techniker Krankenkasse auf etwa 10 bis 15 Millionen Euro jährlich.
Zu den 24 identifizierten Leistungen gehören unter anderem:
- die routinemäßige Verschreibung von Benzodiazepinen für Menschen über 65
- Inhalationstherapie bei COPD ohne vorherige Bestätigung der Diagnose durch Spirometrie
- Verschreibung unwirksamer Medikamente wie zum Beispiel ausgewählter Nootropika bei Alzheimer
- Opiate bei Migräne und Kopfschmerzen
- Untersuchung der Knochenmineraldichte in regelmäßigen Abständen
- Elektrotherapie bei Wundliegegeschwür
Vermeidbare Ausgaben
In den Daten der Techniker Krankenkasse fanden die Forschenden beispielsweise jährlich 200.000 bis 300.000 Fälle, bei denen für Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion die Schilddrüsenhormone fT3/fT4 im Labor bestimmt worden sind. Der TSH-Wert gilt jedoch bereits als aussagekräftiger Indikator, sodass eine zusätzliche Messung von fT3/fT4 keine weiteren diagnostischen Erkenntnisse liefert. Aber ein einzelner fT3- oder fT4-Test kostet mindestens 3,70 Euro. Insgesamt wären 2,15 Millionen Euro allein für diese Laboruntersuchungen vermeidbar gewesen. Ein anderes Beispiel ist die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose. Tumormarker dienen zur Verlaufskontrolle bei bestehenden Krebserkrankungen und nicht zur allgemeinen Diagnostik. Dennoch identifizierten die Forschenden jährlich 50.000 bis 60.000 Fälle solcher Tests ohne bestehende Krebsdiagnose, wodurch vermeidbare Ausgaben von rund 520.000 Euro pro Jahr entstanden sind.Überversorgung verursache nicht nur unnötige Kosten, sondern berge auch gesundheitliche Risiken für die Patienten, etwa durch die Entstehung von Antibiotikaresistenzen durch unnötige Antibiotikagabe oder stressinduzierende Folgeuntersuchungen durch falsch-positive Diagnosen, so die Forschenden.
Kommentar von Stefan Reis
Die Ergebnisse der beiden erwähnten Untersuchungen sind aus Sicht der Homöopathie durchaus bedeutsam.Was die Prävention von schwereren gesundheitlichen Störungen angeht, ist die Homöopathie zu beachten, weil sie in der Lage ist, schon bei leichten Beschwerden eine spezifische Behandlung einzuleiten. Ist dies erfolgreich, können gravierendere gesundheitliche Probleme – das zeigen die Beobachtungen in der Praxis – offenbar in vielen Fällen verhindert werden. Dazu kommt, dass mit Hilfe der speziellen Anamnestik oft Einflüsse erkannt werden können, die für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen verantwortlich sind und in der Folge modifiziert und vermieden werden können. Das trägt nicht nur zu einer größeren Gesundheitskompetenz des/der Einzelnen bei, sondern dient auch der Prävention.
Die Problematik der unangemessenen diagnostischen und therapeutischen Verfahren ist schon länger bekannt. Das oben erwähnte Beispiel der Verschreibung von Antibiotika ohne gesicherte Indikation wurde gerade von Seiten der Homöopath*innen wiederholt adressiert. Damit soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, als könne die Homöopathie in allen oben genannten Fällen eine Alternative darstellen. Dazu müssen viele Aspekte in jedem Einzelfall berücksichtigt werden
Die in der zweiten Arbeit genannten vermeidbaren Ausgaben erscheinen auf den ersten Blick vielleicht gar nicht allzu hoch. Allerdings werden die „Folgekosten“, die durch die überflüssigen Maßnahmen mitunter entstehen, auf die „gesundheitlichen Risiken“ beschränkt. Nicht erwähnt werden die Kosten, die durch eine notwendige Behandlung von Nebenwirkungen oder Folgeerscheinungen entstehen: Antibiotika, Opiate, Benzodiazepine und einige Nootropika sind in dieser Hinsicht ja nicht unproblematisch. Andererseits sollte man den betroffenen Patient*innen nicht einfach diese Medikamente nur vorenthalten, denn zumindest subjektiv besteht ja Behandlungsbedarf. Hier sollte die Homöopathie, als kostengünstiges und quasi nebenwirkungsfreies Therapieverfahren, deutlich stärkere Berücksichtigung finden.
Originalpublikationen
- Zeeb H, Loss J, Starke D, Altgeld T, Moebus S, Geffert K, Gerhardus A. Public health in Germany: Structures, dynamics, and ways forward. The Lancet Public Health. 2025. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(25)00033-7
- Hildebrandt M, Pioch C, Dammertz L, Ihle P, Nothacker M, Schneider U, Swart E, Busse R, Vogt V. Quantifying Low-Value Care in Germany: An Observational Study Using Statutory Health Insurance Data From 2018 to 2021. Value Health. 2024 Nov 20:S1098-3015(24)06760-3. doi: 10.1016/j.jval.2024.10.3852. Epub ahead of print