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Die Wissenschaften und der Stellenwert der Homöopathie im Gesundheitssystem

Referate und Podium am 15. März im Hospitalhof Stuttgart

(Carl Classen) „Globuli, Wissenschaft und Patientenwunsch“ — unter diesem Titel hatte die Evangelische Akademie Bad Boll die Veranstaltung ausgerichtet. Eingeladen waren einige hochkarätige Referenten sowie gesundheitspolitische Sprecher von Die Grünen, FDP, SPD und CDU. Die Ankündigung veranlasste das Anti-Homöopathie-Netzwerk INH bereits vor der Veranstaltung zu einem Statement, welches aus dem Begriff „Patientenwunsch“ schloss, hier solle eine „Wunschmedizin“ propagiert werden1. Eine klassische Strohmann-Argumentation, denn Wunschmedizin und Berücksichtigung von Patientenwünschen sind zweierlei.

Nach aufschlussreichen Beiträgen zur Forschungslage stellten die Referenten sich Fragen der SWR-Moderatorin Heike Scherbel. Im dritten Teil folgte eine Video-Botschaft von Manne Lucha (Gesundheitsminister Baden-Württemberg) sowie eine von Dr. Dietmar Merz (Studienleiter des Bildungszentrums und Initiator der Veranstaltung) und Monika Renninger (Pfarrerin) moderierte Podiums-Diskussion mit Fragen an die anwesenden Politiker. So kamen unterschiedliche bis gegensätzliche Sichtweisen und Positionen, aber auch Zwischentöne zur Geltung. Die Veranstaltung war mit rund 80 Teilnehmer/inne/n nicht besonders stark, aber von vielen qualifizierten, im Thema orientierten Gästen besucht. Manche bekannte Gesichter der Homöopathie-Szene und auch aus dem anthroposophischen Umfeld, einzelne Skeptizisten als Beobachter. Die Vorstrukturierung und die gut geführte Moderation sorgten für einen sachlichen Ablauf.

Der Begrüßung durch die Veranstalter folgte ein Video-Grußwort von Prof. Dominik Aischner, medizinischem Geschäftsführer der Robert-Bosch-Klinik in Stuttgart. Diese sei gegründet worden mit dem Schwerpunkt Homöopathie, aber auch mit dem Anliegen, die angewendeten Verfahren sorgfältig zu erforschen. Da keine Belege erbracht werden konnten2, habe man die Homöopathie zu den Akten gelegt. Eine klare Positionierung.

Beiträge zu Sozialforschung, Grundlagenforschung und Meta-Analysen

Prof. Renate Köcher, Meinungsforscherin und Allensbach-Geschäftsführerin, gab den Anwesenden die Ehre einer Erst-Präsentation der Auswertung von 2022 erhobenen Daten zu Bekanntheit, Verwendung und Image homöopathischer Arzneien. Mit Blick auf Ankündigung und Vorredner sagte sie, dass sie Begriffen wie „kontrovers“ und „umstritten“ mit einer gewissen Heiterkeit lausche. Die Wahrnehmung in der Bevölkerung sei viel weniger dissonant. Man sehe Licht und Schatten, aber keine zwei Lager, von denen nur eines gelten darf. Nur 5% der Bevölkerung teile die radikale Auffassung, dass die Homöopathie in der modernen Medizin keinen Platz habe, aber 51% sehen Grenzen bei schweren Krankheiten. Der größte Vorbehalt sei, dass es auch viele Scharlatane und Pfuscher gäbe (66%). „Licht und Schatten“ repräsentiert auch die Einschätzung der Wirksamkeit mit 51% als „teils wirksam“. Im Vergleich von 2020 zu 2022 scheint der Abwärtstrend der Vorjahre zumindest in der Einschätzung der Wirksamkeit gestoppt, während die Nutzung von Naturmedizin im Allgemeinen seit 2000 langsam, aber stetig zugenommen hat.

Dr. Helmut Kiene, IFAEMM / Universität Witten-Herdecke, präsentierte ein „Systematisches Review der Metaanalysen von Placebo-kontrollierten Homöopathie-Studien zu jeglicher Indikation“. Auch hier handelte es sich um eine Erst-Präsentation. Kienes Review untersucht die sechs großen Meta-Analysen von Linde (1997 und 1998), Cucherat (2000), Shang/Egger (2005) und Mathie (2014 und 2017) mit der Fragestellung der Wirksamkeit der Homöopathie als Methode. Es handelt sich dabei nicht einfach um einen Querschnitt der Daten, sondern um komplexe qualitative Untersuchungen der Metaanalysen auf die jeweils zugrundeliegenden Daten, Vorgehensweisen, mögliche Verzerrungseffekte und Rückschlüsse. Die Gesamt-Evidenz sieht Kiene „hoch“ für individualisierte Homöopathie und „moderat“ für nicht-individualisierte Homöopathie. Warum kamen Andere zu anderen Schlüssen? Dies überprüfte Kiene insbesondere bei der Shang-Studie, beim House of Commons Report und beim 2nd Australian Report und fand Probleme mit den konzeptionellen Grundvoraussetzungen. Wie beispielsweise der Annahme, alles in der gesamten Natur sei durch die vier bekannten physikalischen Grundkräfte erklärbar. Ich übersetze: die Glaubensannahme, außerhalb der bekannten klassischen Physik gäbe es nur Nichts, führt fast zwingend zu „Nachweisen“ der Unwirksamkeit. Kiene unternahm also nicht weniger als eine Art Meta-Meta-Analyse mit nochmals höherer Evidenz. Kritisiert wurde, dass durch die Präsentation einer noch nicht veröffentlichten Studie keine kritische Durchsicht vorab möglich gewesen war.

Prof. Stephan Baumgartner (gerade frisch habilitiert — wir gratulieren!) nahm Bezug auf die arzneibuchlichen und pharmazeutischen Qualitätsstandards homöopathischer Arzneimittel und sagte, die Grundlagenforschung widme sich vor allem zwei Fragen: 1. Gibt es eine Wirkung homöopathischer Potenzen, und 2. wie kann man diese Wirkung verstehen. Baumgartners bekannte Wasserlinsen-Versuche sind signifikant, sie sind replizierbar und sie stehen in einer Reihe von vergleichbaren Grundlagenexperimenten. Die Frage der generellen Wirkung lässt sich damit klar bejahen. Die Wirkungsweise (um nicht das Unwort Wirk-„Mechanismus“ zu verwenden) ist hingegen, trotz einiger Modell-Annahmen, grundsätzlich noch offen. Replizierbar ist allenfalls die Zerstörbarkeit der Wirkung durch starke elektromagnetische Wellen, wie etwa Mikrowellen.

Prof. Urban Wiesing, Arzt und Medizin-Ethiker, hatte nun gewissermaßen die Aufgabe, seine beiden Vorredner zu zerlegen. Laut, klar und scharf sagte er sinngemäß: Wir sind ein freies Land, aber sollen universitär gebildete Ärzte Homöopathie anbieten und soll das Gesundheitssystem dies finanzieren? Der universitäre Kontext verpflichte, sich Rechenschaft über Wirkungen abzulegen. Placebo-Effekte dürfe und solle man nutzen, nicht aber Placebo-Gaben, beides sei zu unterscheiden. Die Homöopathie koste das Gesundheitssystem zwar nicht viel, die ärztlichen Ausbildungen aber kosten die Gesellschaft einiges und im Übrigen ginge es auch um’s Prinzip, sonst müssten wir irgendwann auch eine Bahnfahrt nach Lourdes bezahlen. Sanktioniert werden sollten ärztliche Homöopathie-Verschreibungen in Fällen, bei denen es wirksame Arzneimittel gibt. Zu Baumgartner sagte er sinngemäß: selbst wenn es einen Wirkmechanismus gäbe, wofür er dann ja sicher einen Nobelpreis bekäme, käme es alleine auf die klinische Wirksamkeit an. In Richtung Kiene sprach er wiederholt den überwältigenden Mehrheits-Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft an. Zu Klimaerwärmung und Corona gäbe es ebenso abweichende wissenschaftliche Meinungen, die seien irgendwann einfach nicht mehr relevant. In der Aufreihung fehlten eigentlich noch die Flach-Erdler. Und die Hohl-Erdler3? Nein, es fehlten die vielen historischen Beispiele, in denen eine überwältigende wissenschaftliche Mehrheitsmeinung von der Wirklichkeit schlichtweg überholt wurde4. Hinweise, unter welchen Voraussetzungen „Mehrheit“ ein Wahrheitskriterium sein soll, blieb Wiesing schuldig.

Wiesing auf die spätere Frage der Moderatorin, ob man die Homöopathie nicht billigen solle, wenn es auch unabhängig von der spezifischen Wirksamkeit doch einen positiven Gesamteffekt gäbe, etwa weil Homöopathie-Patienten aufmerksamer auf sich selbst sind: „Gute Anamnesen, gute Gespräche soll die Schulmedizin machen“. Kiene auf die Frage, ob man den Wissenschafts-Begriff erweitern müsse: „Der ist schon erweitert“. Baumgartner auf die einfach wiederholte Nobelpreis-Frage: „Der interessiert mich nicht, sondern alleine die Forschung. Wir sehen, dass etwas wirkt. Was genau, wissen wir noch nicht.“

Statements baden-württembergischer Gesundheitspolitiker

Nach einer Pause folgte der politische Teil. Manne Lucha (Gesundheitsminister von Baden-Württemberg) bekannte sich in einer Video-Botschaft zur Therapievielfalt und zur Integrativmedizin in bestimmten Bereichen. Es folgte eine moderierte Podiums-Diskussion mit Norbert Knopf (Grüne), Jochen Hausmann (FDP), Florian Wahl (SPD) und Michael Preusch (CDU). Angenehm sachlich und in der Materie gut orientiert zeigte sich Norbert Knopf. Knopf bekennt sich zur Existenzberechtigung verschiedener Therapien und im Grundsatz auch zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Patienten, die bei schweren Erkrankungen allerdings nicht mehr als alleinige Prinzipien funktionierten. Michael Preusch zeigt sich als Arzt ebenfalls kompetent und im Grundsatz für Pluralismus, betonte allerdings zweimal – ohne das Wort „Heilpraktiker“ in den Mund zu nehmen – dass klar sein müsse, wer denn da berät und verordnet, damit es zu keiner Patientengefährdung käme. Jochen Hausmann sprach von freier Verantwortung und Therapiefreiheit, blieb aber recht vage in allem, außer zur Selbstverwaltung der Krankenkassen und Apothekenpflicht. Umso eindeutiger war Florian Wahl (SPD), nach Dominik Aischner (Grußwort) und Urban Wiesing der dritte Homöopathie-Kritiker in der Runde. Wahl glänzte durch hitzig vorgetragene Skeptiker-Standardphrasen ohne Bezug zu den jeweiligen Vorrednern. Wiederholt forderte er, die vorgebliche gesetzliche „Privilegierung“ der Homöopathie in Sozialgesetzbuch und Arzneimittelgesetz zu beenden.

Essenzen abseits der wissenschaftlichen Details

Zunächst einmal finde ich es mutig und verdienstvoll, eine solche Veranstaltung in dieser Zeit und inmitten der kontroversen Dynamik des Themas überhaupt auszurichten. Ja, bei geeignetem Rahmen ist ein Diskurs möglich. Wie schon die Meinungsforschung feststellt, wird das Thema in weiten Teilen der Bevölkerung weit weniger polarisiert wahrgenommen, als bestimmte Kreise dies zuspitzen. Der SPD-Vertreter stand für mich für einen Typus von Jungpolitikern, die ihren reduktionistischen Wissenschaftsglauben unbewusst zur Religion erheben und daran festhalten. Das wurde doch schon in den Jugendorganisationen der Grünen und aller Parteien versucht. Insofern wird die Homöopathie zum Gegenstand einer Stellvertreter-Debatte. Denn allzu deutlich ist, mehrere Redner merkten dies in Nebensätzen an, dass es im Gesundheitswesen weitaus drängendere Probleme gibt, wie etwa den Pflegenotstand.

An Prof. Wiesing beunruhigten mich weniger die eloquent vorgetragenen, aber längst bekannten Argumente, sondern die Tatsache, dass solche Positionen bundesweit zunehmend von Ethik-Lehrstühlen und dadurch mit einer gefühlten moralischen Autorität vertreten werden5. Die Verlagerung der vorgeblich abgeschlossenen wissenschaftlichen Diskussion zur Ethik hin beobachten wir schon länger; die Verführung liegt im Gestus ethischen Hohepriestertums einer Wissenschaftsreligion. Doch auch Dietmar Merz, Pfarrer und Initiator der Veranstaltung, befasst sich intensiv und praktisch mit Medizinethik. So kommt es auf diesem Feld umso mehr darauf an, mit welchem Welt- und Menschenbild und mit welcher Haltung jemand unterwegs ist. Was die politische Seite anbelangt, empfand ich einmal mehr, dass nicht maßgeblich ist, welche Partei und welche Institution uns bereits enttäuscht hat, sondern es weitestgehend auf die Einzelpersönlichkeiten ankommt. Es ist wichtig wahrzunehmen, mit wem man reden kann und dies zur rechten Zeit zu tun.

Dem Veranstalter danken wir dafür, mit Engagement und Sachkompetenz diesen Rahmen für einen wirklich qualifizierten Austausch zwischen Wissenschaft und Politik geschaffen zu haben.

 


1 https://netzwerk-homoeopathie.info/globuli-wissenschaft-patientenwunsch-eine-veranstaltungsankuendigung/

2 Praktiziert und erforscht wurde vor allem ab 1936 (Donner-Report; erste Klinik-Gründung schon 1921) allerdings eher eine Art Schulmedizin mit homöopathischen Arzneimitteln, was ein konzeptioneller Bruch ist. Die in der Homöopathie essenzielle Individualisierung sowie alles „Geistartige“ waren der nationalsozialistischen Ideologie zuwider.

3 https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/622444

4 https://www.zeit.de/2017/19/wissenschaftsphilosophie-erkenntnisse-wahrheit-korrektur

5 Abgesehen vom Tübinger Lehrstuhl sind das alleine schon im „Münsteraner Kreis“ Bettina Schöne-Seiffert als leitende Professorin sowie, als Mitwirkende im Institut für Ethik der Universität Münster: Dr. Daniel R. Friedrich, Prof. Dr. Hans-Georg Hofer, Prof. Dr. Paul Hoyningen‐Huene, Prof. Dr. Dr. Peter Hucklenbroich und Dr. Jan‐Ole Reichardt — Medizinrechtler mit Ethik-Schwerpunkt nicht mitgerechnet. Prof. Alena Buyx und der Deutsche Ethikrat unter ihrer Leitung zeigten in anderen Zusammenhängen eine strikte Orientierung an wissenschaftlichen Mehrheits-Empfehlungen. In der internationalen Debatte setzte der schottische Medizinethiker Dr. Kevin Smith zusammen mit Edzard Ernst eine Landmarke mit der Publikation „Complementary & Alternative Medicine: Ethical and Policy Issues“ (Bioethics, 2016), während  in Schweden die Bewertung ärztlicher Homöopathie-Verschreibungen bei Vorhandensein „wirksamer“ Arzneien als unethisch bereits Realität ist.

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