RKI-Protokolle – wo bleibt die Aufarbeitung in den Medien?
RKI-Protokolle – wo bleibt die Aufarbeitung in den Medien?
Vor kurzem wurden die Protokolle des Corona-Krisenstabs ohne Kürzungen und Schwärzungen durch einen Leak der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den Medien wird das Thema nur zögerlich aufgegriffen.
Die COVID-19-Pandemie war vor allem in den Jahren 2020-2022 in jeder Hinsicht eine Herausforderung, auch für uns als Berufsverband für Heilpraktiker*innen und unsere Mitglieder. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die sich vor allem aufgrund unterschiedlicher Bewertung prophylaktischer und politischer Maßnahmen ergaben, zeigten (und zeigen) sich durchaus auch innerhalb unseres Berufstandes.
All das hat Wunden und offene Fragen hinterlassen, die nicht von der Zeit geheilt oder mit ihr vergessen werden. Es geht um die Übernahme von Verantwortung, die Klärung der Frage nach Berechtigung bestimmter Maßnahmen und natürlich um etwaige Konsequenzen für künftige, vergleichbare Situationen. Auch besteht die Notwendigkeit, Spekulationen und Mutmaßungen, die von Seiten den Maßnahmenkritiker*innen in den Raum gestellt wurden, kritisch zu überprüfen. Vor einer Bewertung aber muss Transparenz geschaffen werden, andernfalls bleibt alles Spekulation und ist letzten Endes jede Position irgendwie auch vertretbar.
Ein wichtiges Puzzlestück im Rahmen der notwendigen Aufarbeitung stellen Dokumente dar, die offizielle Stellen in jener Zeit anfertigten, wie zum Beispiel die Protokolle der beim Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführten regelmäßigen Sitzungen des Krisenstabs. Einen Teil dieser Protokolle hatte das RKI auf zunehmenden öffentlichen Druck hin im Mai 2024 weitgehend ungeschwärzt veröffentlicht. Sie können die Protokolle unter folgendem Link finden: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/C/COVID-19-Pandemie/COVID-19-Krisenstabsprotokolle_Download.pdf?__blob=publicationFile
Allerdings umfassen diese Dokumente lediglich den Anfangszeitraum der Pandemie (bis Ende April 2021). Das RKI kündigte zwar an, auch die restlichen Protokolle bis Juli 2023 nach einer Prüfung zugänglich zu machen, bis heute (19.08.2024) ist das jedoch nicht geschehen. Zwischenzeitlich hat aber die Journalistin Aya Velázquez sämtliche RKI-Sitzungsprotokolle von 2020 bis 2023 ungeschwärzt und ungekürzt veröffentlicht (https://rki-transparenzbericht.de/). Zur Quelle ihres Materials schreibt sie: „Ein/e Whistleblower/in, ein/e ehemalige Mitarbeiter/in des Robert-Koch-Instituts, ist auf mich zugekommen und hat mir den Datensatz zugespielt.“
Die geleakten Dokumente zeigen u.a. eine deutliche Einflussnahme des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach auf die Corona-Risikobewertung und Krisenkommunikation des RKI, was der Minister bisher jedoch vehement bestritten hatte und was bislang aufgrund der Schwärzungen auch nicht eindeutig zu belegen war.
Nun hat sich FDP-Vize und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) mit einer harschen Kritik an Karl Lauterbach zu Wort gemeldet. Die veröffentlichten Dokumente würden klar eine Einflussnahme des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf die COVID-19-Risikobewertungsstrategie des RKI belegen. So habe das RKI auf Drängen des BMG den öffentlichen Pandemiedruck künstlich hochgehalten. Die von Minister Spahn genutzte Formulierung „Pandemie der Ungeimpften“ wurde zum Beispiel seitens des RKI als kritisch bewertet und sei so nicht haltbar gewesen. Seine Kritik belegt Kubicki in einem ausführlichen Text auf seiner Website, in dem er seine Kritikpunkte mit den Texten der Protokolle dezidiert untermauert. Lauterbach habe der Nation großen Schaden zugefügt und zu ihrer Spaltung beigetragen und müsse deshalb persönliche Konsequenzen ziehen.
Ganz allein blieb Kubicki mit seiner Kritik nicht; auch der CDU-Politiker Armin Laschet bezeichnete sie (auf der Plattform X) als „sachlich“ und „lesenswert“.
Der Bundesgesundheitsminister wiederum reagierte bislang mit irritierenden Äußerungen, wie in der Ärztezeitung vom 09.08.2024 (Link siehe unten) nachzulesen ist: „Es gibt in den RKI-Protokollen nichts zu verbergen. Daher habe ich [Lauterbach] die Veröffentlichung der Protokolle angewiesen. Das RKI hat während der Pandemie Empfehlungen abgegeben. Die politische Verantwortung liegt aber beim Ministerium.“ Dass diese Antworten nur mehr Fragen zur Folge haben, liegt auf der Hand. Und Lauterbachs Amtsvorgänger Jens Spahn, der immerhin bis Ende 2021 die Gesundheitspolitik verantwortete, wird (in der WELT am 16.08.2024) zu den RKI-Files mit den Worten zitiert, er „verstehe das ganze Theater nicht“. Sicher haben nicht nur wir den Eindruck, dass die Verantwortlichen hier nonchalant abwedeln, was sie eigentlich übernehmen müssten: Verantwortung. Wobei die beiden hier erwähnten Politiker auch nur beispielhaft für zahlreiche weitere Vertreter*innen dieser Zunft stehen.
Während der Pandemie fiel den Medien die wichtige Aufgabe zu, komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte verständlich zu kommunizieren und politische Entscheidungen zu kommentieren. Wie gut oder wie schlecht die Journalist*innen ihrer Aufgabe nachgekommen sind, mag jede*r selbst beurteilen. Rückblickend müssen sich aber vermutlich einige Redaktionen die Frage stellen, ob ihre Berichterstattung immer objektiv und ausgewogen war und wie man sich den aktuellen Erkenntnissen gegenüber verhält. Zum Teil und im Ansatz ist da eine Debattenkultur zu erkennen. Beispielhaft sei ein Gastbeitrag im Feuilleton der F.A.Z. am 14. August von der Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski erwähnt („Wir leben in den Gräben der Pandemie“), der drei Tage später im gleichen Blatt eine kritische Replik durch den Rechtswissenschaftler Klaus F. Gärditz erfuhr („Kein Skandal“).
Wie auch immer: Wir – der VKHD – enthalten uns vorerst einer inhaltlichen oder juristischen Beurteilung der nun vorliegenden geleakten Dokumente und stellen auch keine politischen Forderungen auf. Wir gehen aber davon aus und wünschen uns, dass (unabhängige) Personen mit ausreichender fachlicher Expertise ihre Einschätzung an prominenter Stelle, möglichst in den Leitmedien, publizieren und diskutieren. Von den Politiker*innen und Wissenschaftler*innen (übrigens auch von denen, die die Corona-Politik kritisierten) erwarten wir größtmögliche Transparenz, Ehrlichkeit sowie – falls es sich so ergibt – auch den Mut dazu, Fehleinschätzungen und -entscheidungen einzuräumen. Die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und aus den Erfahrungen der „Corona-Jahre“ zu lernen, ist wichtiger, als eine Personalie.
RKI-Stellungnahme zu den veröffentlichten Datensätzen der RKI-Krisenstabsprotokolle:
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/C/COVID-19-Pandemie/Stellungnahme-Protokolle-2024-07-23.html
Weitere Beiträge zum Thema:
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/kubicki-nimmt-lauterbach-ins-visier-149240/
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/153480/RKI-Protokolle-Kubicki-attackiert-Lauterbach
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/153597/Verzerrung-der-Vergangenheit-Lauterbach-verteidigt-sich-gegen-Vorwuerfe
https://www.aerztezeitung.de/Politik/Lauterbach-Corona-Massnahmen-mehr-als-begruendet-451898.htm