Der Biosynthese von Strychnin auf die Spur gekommen
Der Biosynthese von Strychnin auf die Spur gekommen
Einem Forschungsteam am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena ist es gelungen, den kompletten Biosyntheseweg für die Bildung von Strychnin in der Pflanzenart Strychnos nux vomica (Brechnussbaum) nachzuvollziehen.
Potenzierte Zubereitungen von Nux vomica zählen zu den sehr oft eingesetzten Arzneien in der Homöopathie. Nicht ohne Grund bezeichnete Samuel Hahnemann die Brechnuss als „Polychrest“, also als „vielnütziges Arzneimittel“. Hintergrundwissen dient in der Homöopathie zu einem vertieften Verständnis auch der Wirkung einzelner Arzneistoffe. Aus diesem Grunde haben wir uns die erwähnte Arbeit einmal genauer angeschaut.
Die Forschenden identifizierten alle an der Biosynthese von Strychnin und weiteren Stoffwechselprodukten beteiligten Gene und exprimierten sie in der Modellpflanze Nicotiana benthamiana. Damit konnten sie zeigen, dass diese äußerst komplexen und pharmakologisch wichtigen Moleküle mittels „Metabolic Engineering“-Methoden hergestellt werden können.
Der Chemiker und Nobelpreisträger Robert Robinson, der in den 1940er Jahren als einer der ersten die Struktur von Strychnin aufklärte, bezeichnete dieses Monoterpen-Indol-Alkaloid einst als die für ihre molekulare Größe komplexeste chemische Substanz. Viele Chemikerinnen und Chemiker waren von der Architektur des Strychnin-Moleküls begeistert und entwickelten Wege zur Herstellung des Moleküls durch chemische Synthese. Erstaunlicherweise war es bislang aber nicht gelungen zu entschlüsseln, wie Pflanzen diesen Naturstoff herstellen.
Dieser Mammutaufgabe hat sich jetzt das Forscherteam gestellt: Ihre Schlüsselfrage war, wie sie die Gene finden können, die für die Biosynthese von Strychnin in der Brechnuss verantwortlich sind. In einem ersten Schritt haben sie die Expression der Gene (Transkriptom) von zwei Arten der gleichen Gattung (Strychnos) verglichen, von denen aber nur der Brechnussbaum Strychnin produziert. Sie wählten auf dieser Grundlage Kandidaten-Gene für jeden Schritt auf der Grundlage der vorgeschlagenen chemischen Umwandlung aus, von der sie nicht wussten, ob sie korrekt war oder nicht.
Die vorgelagerten Gene der Strychnin-Biosynthese bis zur Bildung eines wichtigen Zwischenprodukts (Geissoschizin) sind in der Heilpflanze Catharanthus roseus (Madagaskar-Immergrün) vollständig aufgeklärt, und die homologen Gene konnten im Brechnussbaum identifiziert werden.
Für die weitere Lösung der Aufgabe war eine detektivische Kombinationsgabe erforderlich, um molekulare und genetische „Indizien“ miteinander zu verknüpfen. Auf der Grundlage der chemischen Strukturen und Mechanismen ergab sich für jeden Schritt im Stoffwechselweg ein Vorschlag für die chemische Umwandlung. Die Annahmen über die biosynthetischen Enzymfamilien mit katalytischen Funktionen basierten wiederum auf der chemischen Reaktion der einzelnen Schritte.
Zum Nachweis dafür, dass die identifizierten Gene für die vorgeschlagenen Biosyntheseschritte verantwortlich sind, veränderten die Forschenden Tabakpflanzen (Nicotiana benthamiana) so, dass sie vorübergehend die Enzyme produzierten. Unter Zugabe der entsprechenden Ausgangsstoffe untersuchten sie dann, ob die transformierte Tabakpflanze das angenommene Produkt bildet. Diese Methode erlaubte es, in hohem Durchsatz mehrere Gene gleichzeitig zu testen, was die Zeit zur Lösung des Rätsels deutlich verkürzte.
Für den letzten Schritt der Strychnin-Biosynthese konnten die Forschenden allerdings kein entsprechendes Enzym finden, das die Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin katalysiert. Stattdessen stellten sie fest, dass diese Umwandlung spontan und ohne Enzym erfolgt. Wie so oft in der Wissenschaft kam der Zufall zu Hilfe: Die spontane Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin war eine zufällige Entdeckung. Sie erfordert mehrere Zwischenschritte, und die Forschenden dachten zunächst, dass dieser Prozess von einem oder mehreren Enzymen katalysiert werden muss. In der Tat haben sie viele Enzyme untersucht, aber keines von ihnen war reaktiv. Überraschenderweise stellten sie eines Tages fest, dass eine Prestrychnin-Probe, die bei Raumtemperatur auf dem Labortisch gelagert wurde, sich im Laufe der Zeit langsam in Strychnin umgewandelt hatte.
Nachdem der letzte Teil des Puzzles gefunden war, konnte das Forschungsteam den kompletten Biosyntheseweg von Strychnin sowie der verwandten Moleküle Brucin und Diabolin aufklären. Während Brucin ebenfalls von der Brechnuss produziert wird, wird Diabolin von einer verwandten Art der Gattung Strychnos gebildet, die weder Strychnin noch Brucin produziert. Bemerkenswert ist auch, dass die Wissenschaftler*innen herausfanden, dass nur eine einzige Aminosäure-Änderung in einem der Biosynthese-Enzyme für die unterschiedliche Alkaloid-Anreicherung in der Brechnuss und anderen Strychnos-Arten verantwortlich ist.
Die Aufklärung der Biosynthese von pflanzlichen Stoffwechselprodukten und die biotechnologische Nutzung der genetischen Grundlagen für die Bildung von medizinisch bedeutsamen pflanzlichen Wirkstoffen in Modellpflanzen sind vielversprechend. Die aktuelle Studie eröffnet neue Möglichkeiten für die Produktion von bislang unbekannten wirksamen Substanzen mit Hilfe von „Metabolic Engineering“-Ansätzen.
Originalpublikation
Hong B, Grzech D, Caputi L et al. Biosynthesis of Strychnine. Nature 2022. doi: 10.1038/s41586-022-04950-4Quelle: Max-Planck-Institut für chemische Ökologie