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Interview: Professor Dr. Martin Dinges in den Ruhestand verabschiedet

Professor Dr. Martin Dinges war seit 1991 Archivar des IGM in Stuttgart Professor Dr. Martin Dinges war seit 1991 Archivar des IGM in Stuttgart Fotolia.com # 71372040 © Kseniya Ragozina
Professor Dr. Martin Dinges ist seit 1991 (1) Archivar und stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) in Stuttgart (2). Viele kennen ihn auch als kompetenten Autor und Referenten zu medizinhistorischen Themen. Nun wurde er zum 1. April 2019 in den verdienten (Un-)Ruhestand verabschiedet. Aus diesem Anlass führte Stefan Reis für den VKHD ein Interview mit ihm.

Stefan Reis: Lieber Professor Dinges, Sie haben 1991 als Archivar im IGM Bosch in Stuttgart angefangen. Wie war damals Ihr Kenntnisstand zur Homöopathie?

Professor Dr. Martin Dinges: Kurz geantwortet: Null! Das trifft tatsächlich meinen damaligen Informationsstand. Ich kam ja aus dem Ruhrgebiet und meine Mutter hat zwar witziger Weise später – unabhängig von mir – auch die Homöopathie entdeckt, aber zu meinen Zeiten hat das keine Rolle gespielt. Deswegen habe ich nach dem Motto begonnen, dass man sich als Archivar immer neu einarbeiten muss in das Feld, auf das man sich begibt. Das habe ich dann auch entsprechend getan.

Stefan Reis: Sie haben die Homöopathie vermutlich mehr unter historischen Aspekten kennen gelernt und keine methodische Ausbildung hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung erfahren. Was waren damals Ihre ersten, spontanen Eindrücke, als Sie mit der Homöopathie in Kontakt kamen? Erschien Ihnen das Ganze plausibel? Hielten Sie die Homöopathie für eine ernst zu nehmende Wissenschaft? Oder sind das alles Kategorien, die bei einer rein historischen Betrachtung außen vor bleiben?

Professor Dr. Martin Dinges: Ich habe damals die Homöopathie natürlich ausprobieren wollen und hatte mittelmäßige Ergebnisse bei Heuschnupfen, sah aber sehr überzeugende Resultate bei Blasenentzündungen in meinem Umfeld. Insofern habe ich von Anfang an eine Plausibilität des Ganzen angenommen. Ansonsten interessierte mich natürlich in erster Linie das Historische und daran fand ich attraktiv, dass man es gewissermaßen mit einer Minderheitenposition zu tun hat, von der man ja nie weiß, wie bedeutsam sie werden kann als Reserveoption eines Gesundheitssystems. Ich habe das damals – sicher in gewisser Überschätzung – mit der Sonnenenergie verglichen, wo man ja auch Ende der 70er Jahre dachte, ein paar Spinner bauen mit Fotovoltaik irgendwelche Kinderkreisel auf irgendeinem Alternativfestival wie „Tunix“. Was seither aus der Sonnenenergie geworden ist, weiß man ja. Homöopathie wäre historisch ähnlich als Alternativressource eines Großsystems zu betrachten, weil sich darin oft viele Probleme des Hauptsystems sehr gut spiegeln und in den gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen sehr deutlich wird, wo Bezugsgrößen des Hauptsystems und des Alternativsystems – als solches wurde Homöopathie ja damals, 1990, gedacht – liegen. Zudem ging es mir inhaltlich auch darum, in der Homöopathiegeschichte wegzukommen von dieser Vaterfixierung auf Hahnemann, obwohl wir ja jede Menge Quellen im Haus dazu hatten. Doch schien mir von Anfang an eine Schwäche des Feldes darin zu liegen, dass man sich zu sehr auf den Übervater bezieht.

Stefan Reis: Apropos Hahnemann. Sie haben im Laufe der Jahre durch die Arbeit mit den im IGM aufbewahrten Schriften und Korrespondenzen sicher viel Einblick in sowohl berufliche, als auch private Bereiche Hahnemanns erhalten. Denken Sie, dass das Bild Hahnemanns, wie es heute in der Homöopathie tradiert wird (das eines großartigen Therapeuten, eines Menschenfreundes und Genies) der Realität entspricht?

Professor Dr. Martin Dinges: Natürlich sind die Vorstellungen von einem solchen Gründervater oder Gründergenie auch sehr zeitbedingt. Das ist zum einen eine Fortwirkung des Geniekults des 19. Jahrhunderts. Das Andere ist, dass eine Minderheitenposition unter Druck natürlich starke Identifikationsfiguren braucht. Der Bezug auf Hahnemann ist schließlich immer auch eine Art Totschlagsargument gewesen. Wenn man einem Vertreter einer anderen Richtung innerhalb der Homöopathie erfolgreich entgegen treten wollte, war das immer ein beliebter Bezug. Nun hat sich diese doch sehr patriarchalische und patrilineare Konstruktion – „ich stamme direkt ab von Hahnemann in meinem Handeln“ - wie ich finde, erfreulicher Weise in den letzten Jahrzehnten aufgelöst. Der Anteil der Dogmatiker ist nach meinem Eindruck sehr viel geringer geworden, der der Pragmatiker unter den Homöopathen sehr viel größer. Die Bezugnahme auf Hahnemann also ist weniger dogmatisch geworden und mit fortschreitender Historiographie, also Kenntnis seiner Verhaltensweisen, Verfahrensweise, seines Lebens usw., die ja in der Biographie von Prof. Jütte (3) gut dargelegt sind, ist auch dieses heroische Hahnemannbild deutlich relativiert worden. Einerseits hat man ihn also in den historischen Kontext gestellt, in den er gehört und aus dem er sich speist. Der erlaubt auch, sehr genau zu sagen, wo er weitergegangen ist und wo er besser war als seine Zeitgenossen und welche seiner spezifischen Prägungen zeittypisch sind. Andererseits hat man sich seine persönlichen Verhältnisse angeschaut. Hier ist tatsächlich zunächst einmal beeindruckend, was er in seinen schwierigen Verhältnissen alles geschafft hat. Er hat bis in seine 50er Jahre hinein immer wieder umziehen müssen und mühselig versucht, sich eine Existenz aufzubauen, war dann unterschiedlich erfolgreich an verschiedenen Orten, hatte aber auch Pech, als er wegen des Festungsbaus in Torgau von dort wegziehen musste. Kurzum: da ist einerseits individuell einiges Positive und Beachtliche zu bemerken. Andererseits war er im Umgang mit seiner ersten Frau – wie auch sie mit ihm – eher streng. Er ist auch mit seinen Patienten zum Teil ziemlich autoritär umgegangen (das ist ja auch, worauf Sie angesprochen haben) und hat da eine sehr hohe Folgebereitschaft erwartet – übrigens mehr gegen Ende seines Lebens, als in den früheren Jahren. Ich habe kürzlich in einem Artikel, gemeinsam mit Klaus Holzapfel in der ZKH (4), versucht darzustellen, wie sich das auch in seinem Lebenslauf verändert hat. Also: der „autoritäre Knochen“ Hahnemann ist eher eine Ausgeburt der späteren als der früheren Jahre, wohl auch weil er später, wie ich glaube, sich seiner Sache sicherer fühlte, aber auch mehr Befürchtungen vor Abweichungen hatte und die Marke Homöopathie doch eng und erkennbar zusammenzuhalten wollte.

Stefan Reis: In dem Zusammenhang dachte ich öfter darüber nach, wie es nach Hahnemanns Weggang nach Paris und dann nach seinem Tod so schnell zum Niedergang der Homöopathie kommen konnte, jedenfalls in Deutschland. Kann es sein, dass ein Aspekt ist, dass er nicht ausreichend für Nachwuchs gesorgt hat oder für eine Lehrbarkeit seiner Therapie? Er hatte ja private Schüler, aber es brauchte dann doch die USA, um dort in einer institutionalisierten Ausbildung tatsächlich zu einer nennenswerten Zahl von Homöopathen zu kommen.

Professor Dr. Martin Dinges: Das ist ein sehr vielschichtiges Feld. Sie haben völlig Recht damit, darauf hinzuweisen, dass die Institutionalisierungschance, die die Homöopathie auf dem offeneren medizinischen Markt der Vereinigten Staaten hatte, ihr sehr gut getan und dazu geführt hat, dass sie dort über zwei, drei Generationen ein sehr starkes eigenes Profil und institutionelle Macht ausbilden konnte. Das war aber eine Gegebenheit, die – völlig unabhängig von Hahnmanns Person – weder in Deutschland, noch in Frankreich noch sonst irgendwo in Europa existierte, weil die medizinischen Fakultäten ja schon zu Hahnemanns Zeiten mit anderen Paradigmen begonnen hatten zu arbeiten. Die Homöopathie hatte dementsprechend hier einen sehr schweren Stand und wurde sehr angefeindet. Das galt trotz der Erfolge bei der Behandlung der Cholera noch in den 1830er Jahren und hat dazu geführt, dass die Homöopathen nirgendwo einen Fuß in die Fakultäten bekamen. Das war eines der institutionellen Hindernisse. Das andere waren die schwierigen Verhältnisse in den Krankenhäusern. Es hat eine ganze Serie von Versuchen gegeben, die teilweise ganz gut verlaufen waren, teilweise aber auch schlecht, unter anderem wegen Sabotage durch Widersacher, aber nicht nur deswegen. Die Chancen der Homöopathen, sich an diesen wichtigsten Institutionen der Zeit, den Krankenhäusern, etwa in den 1820er Jahren zu etablieren, konnten so letztlich nicht umgesetzt werden. Das macht schon zwei, sagen wir mal, institutionelle Schwerstprobleme aus, die auch nicht aufgewogen werden konnten durch die Gründung homöopathischer Krankenhäuser, die doch in der Regel nur so lange erfolgreich waren, wie der jeweilige homöopathische Chefarzt oder Klinikgründer tätig blieb, beziehungsweise die nötigen Ressourcen zustande kamen. Diese mussten zudem immer wieder neu gefunden werden, während alle anderen Krankenhäuser vonseiten des Staats oder insbesondere der Kirche finanziert wurden.

Nun noch zur Frage, wie weit darüber hinaus persönliche Schüler Hahnmanns wichtig waren. Wie Sie wissen, hat es davon etliche gegeben. Es ist aber auch sehr wichtig zu betonen, dass es eine Vielzahl von Homöopathen gegeben hat, die Hahnemann überhaupt nicht gekannt haben, die sich über Bücher, Selbststudium, Kollegen, Inspiration und so weiter an die Sache herangearbeitet und dann auch entsprechend selbstständig weitergedacht haben. Wenn man sich die Untersuchungen anschaut, die wir in den letzten Jahren gemacht und auf der Basis des Lexikons homöopathischer Ärzte (5) publiziert haben, stellt man fest, dass dieser Teil keinesfalls zu unterschätzen ist.(6) Wichtig ist auch Ihre Frage, wie mache ich ein solches System lehrbar? Am besten natürlich, wenn ich es, wie die Österreicher (Dorcsi und Andere), in einer Art Lehrbuch niederschreibe und so zumindest die Grundkenntnisse kanonhaft unter das Volk bringe. Das hat Hahnemann nie gemacht, weil er – nach meinem Eindruck – bis zum Schluss viel mehr Forscher als Lehrer war. Es ist kein Zufall, dass er auf die Hochpotenzen erst in Paris kommt, jedenfalls in dieser Radikalität, und dass die Werke auch immer dicker werden, wie schon in den 1820er Jahren die Chronischen Krankheiten. Die Systematisierung des Stoffes bereitete ihm große Probleme und er kam nicht an einen Punkt, wo er das entscheidende Repertorium verfasst hat. Vielmehr hatte er realisiert, dass er das nicht so ganz auf die Reihe bekam. So fand er das Repertorium von Bönninghausen (7) besser und hat empfohlen, dieses zu verwenden. Es spielt also eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle, ich würde allerdings die strukturellen Faktoren – also schlechter oder erschwerter Zugang der Homöopathen zu Universitäten und insbesondere Krankenhäusern als Ausbildungsstätten – stärker gewichten. Das hängt natürlich auch mit der Abwehr durch die medizinischen Fakultäten und deren Krankheitsbegriff zusammen.

Stefan Reis: Der Beginn Ihrer Tätigkeit im IGM fiel ja in eine Zeit, in der die Homöopathie zumindest in Deutschland einen historischen Aufschwung erlebte. Seit einigen Jahren nehmen wir jedoch eine Krise der Homöopathie (oder der Homöopathen) wahr. Es gibt rückläufige Zahlen in Ausbildungslehrgängen und auf Seminaren, auch klagen einzelne Praxen über einen Patientenrückgang. Gleichzeitig nimmt die mediale Kritik spürbar zu. Wie nehmen Sie aus der Sicht des Historikers diese Situation wahr? Haben Sie gar Erklärungen dafür (für beide Phänomene - Aufschwung & Krise)? Verbunden damit interessiert mich auch eine etwaige Prognose für die kommenden Jahre.

Professor Dr. Martin Dinges: Der Boom begann in den 1980er Jahren und zwar in der so genannten westlichen Welt, inklusive Brasilien. Teilweise hat die Homöopathie dabei von der damaligen grün-alternativen Welle profitiert und in Deutschland auch von der Überbesetzung des Arztberufs. Es bestand das Interesse, sich eine Zusatzqualifikation zu „genehmigen“, die dann am Markt auch angenommen wurde. Das sind zunächst Mitvoraussetzungen, die zu bedenken sind, wenn man diesen am leichtesten quantitativ beobachtbaren Markt, also den der Ärztezahlen, in den Blick nimmt. Ich denke, es hat danach eine gewisse Marktsättigung gegeben, die allerdings interessanterweise von den Patienten keineswegs so gesehen wird. Hier ist die Nachfrage nach wie vor hoch und offenbar sogar steigend. Wir haben im Moment, wenn man von einer Krise reden will, eher ein Auseinanderdriften zwischen der Patientennachfrage und dem Angebot an Ärzten und Heilpraktikern in diesem Feld. Da kommen, glaube ich, mehrere Dinge zusammen. Ich habe lange die These vertreten, dass die Aggressivität der Homöopathiegegner ein Zeichen des Erfolges der Homöopathie ist und dass Befürchtungen um die sinkenden Pharma-Absätze zu entsprechenden Kampagnen seitens der interessierten Kreise geführt haben, mit denen eine Konkurrenz mittels Anti-Propaganda aus dem Markt geschlagen werden sollte. Das mag vor zehn Jahren auch nicht falsch gewesen sein, aber es ist erkennbar, dass die Kampagnen heute viel weiter gehen und auch die Auswirkungen größer sind. Wir wissen aber auch, dass die Effekte auf die Patienten sehr gering sind, insbesondere, wenn sie schon selber irgendwelche Erfahrungen mit Homöopathie haben. Patienten, die Erfahrung mit der Homöopathie haben, stören sich überhaupt nicht daran, halten das und die ganze Wissenschaftsdebatte sowieso für unerheblich, weil sie sagen, "was mir hilft, ist wichtig". Das ist zunächst einmal beruhigend. Allerdings ist bei Menschen, die noch keinerlei Erfahrungen mit Homöopathie haben, die Bereitschaft, sich auf eine homöopathische Behandlung einzulassen, leicht sinkend. Das ist ein beschreibbarer Effekt dieser Kampagnen.
Zudem ist ein ganz entscheidender Faktor, und den habe ich damals zu wenig bedacht, die Auswirkung auf den Nachwuchs. Es ist seit mindestens fünf Jahren eine Parallelität im Bereich des ärztlichen, wie auch des Heilpraktiker-Nachwuchses zu beobachten: die Ausbildungszahlen gehen zurück. Ich habe die Befürchtung, dass hier zwei, drei Dinge zusammenkommen. Im ärztlichen Bereich spielt der Aspekt eines reduzierten Renommees dieser Alternativheilkunde eine Rolle, weil die dauernde öffentliche Abwertung nicht unbedingt junge Studenten dazu einlädt, sich in diese Richtung zu bewegen. Dazu kommt, dass Homöopathie schwierig und mühselig zu erlernen ist, während die medikamentösen Therapieoptionen, die in der Standardausbildung vermittelt werden, leichter und schneller zu erfassen sind. Insofern spricht das nicht unbedingt dafür, sich den Zusatzmühen einer Homöopathieausbildung auszusetzen, zumal das ja on top nach der normalen Ausbildung kommt. Da kommen also Zusatzhindernisse für eine aufwendige Therapie zusammen, die bei einem sich verändernden Ärztemarkt mit mehr Nachfrage dazu führen, dass die Homöopathie nicht mehr so gern gewählt wird, wie in den 1980er und 1990er Jahren. Das Studium an sich ist zudem anspruchsvoller geworden. Bei den Heilpraktikern – das wissen Sie sicher viel besser – ist mir nicht so recht klar, wie diese Regulierungen funktionieren. Hier ist entscheidend, ob man eine zahlungswillige Kundschaft hat, die außerhalb der GKV-Leistungen bereit ist, etwas aufzubringen. Vielleicht gibt es auch hier ein Marktsättigungsphänomen.

Stefan Reis: Vielleicht noch mal zur Prognose: sehen Sie sich in der Lage, eine Prognose hinsichtlich der näheren Zukunft der Homöopathie abzugeben?

Professor. Dr. Martin Dinges: Das finde ich außerordentlich schwierig. Ich neige dazu, mich als Historiker zurückzuhalten und schaue vor allem auf die strukturellen Rahmenbedingungen. Die sprechen eher gegen günstige Entwicklungen für die Homöopathie, eben wegen der Situation des Ärztemangels und der guten Chancen für junge Leute, auch anders, direkter und schneller, erfolgreich zu sein. Ich weiß auch nicht, ob und in wie weit sich das, was an grün-alternativer Grundgestimmtheit eines Teils unserer Gesellschaft vorhanden ist, weiterhin zugunsten der Homöopathie auswirkt. Nach meinen Beobachtungen schon, aber wie weit das trägt, ist schwer einzuschätzen. Das Hauptproblem ist die Ausbildung, nicht die Nachfrage, und ob wir in einem Gesundheitssystem leben, das überhaupt die Impulse aus der Nachfrage wahrnimmt, aufnimmt und in der Weise weitergibt, dass sich junge Menschen überlegen, dass da doch Leute sind, die die Praxen voll haben, und zwar mit einer Art der Behandlung, die meinem Wunsch als Therapeut, mir Zeit zu nehmen für die Patienten und sie etwas umfassender zu kennen, entspricht. Ob die Studierenden solche Signale wahrnehmen und sich das in Studien- und Fortbildungsentscheidungen auswirkt, das ist sehr schwer einzuschätzen. Aber der entscheidende Punkt ist wahrscheinlich: Wie kommen die Signale aus der Patientenschaft überhaupt bei den Ärzten an? Man muss sich ja klarmachen, dass wir mittlerweile viel mehr Krankenhausärzte als niedergelassene Ärzte haben. Ein Trend, der nicht unbedingt für den von mir sehr hoch geschätzten alten Hausarzt spricht.

Stefan Reis: Aber vielleicht für den Heilpraktiker.

Professor Dr. Martin Dinges: Das mag sein. Um noch einen Satz zu sagen: der Hausarzt hat ja immer noch den Ruf und den Ruch, dass er viele Wochenenddienste und Nachtbesuche machen müsse – und das ist teilweise auch so. Das ist sicher auch eher etwas, was die Leute ins Facharztstudium treibt. Das ist diese unsägliche Verfacharztlichung der Medizin in Deutschland. Und das ist ein Element, das mit den Berufserwartungen von Ärzten zu tun hat, die bestimmte Belastungen nicht mehr so gerne tragen möchten, wie sie das früher wohl oder übel tun mussten.

Stefan Reis: Ich habe Sie schon oft bei Veranstaltungen erlebt und es scheint für Sie keine Rolle zu spielen, ob Sie vor einem akademischen (Ärzte-) Publikum sprechen oder beispielsweise vor Heilpraktikern. Darf ich Sie fragen, welchen Eindruck Sie von den homöopathisch arbeitenden Heilpraktikern haben, denen ja mitunter der Nimbus der „medizinischen und wissenschaftlichen Laien“ anhaftet?

Professor Dr. Martin Dinges: Ich habe sehr unterschiedliche Eindrücke von Tagungen, persönlichen Begegnungen und so weiter. Da gibt es eigentlich zwei Richtungen, die mir auffallen. Einerseits gibt es einen sehr starken Trend zu einer Höherqualifizierung, sehr gründlichen Ausbildung und so weiter, auch über die entsprechenden Schulen und Zertifikate, der, wie ich denke, beachtlich ist und übrigens auch im Ausland viel zu wenig wahrgenommen wird. Daneben begegne ich unter den Heilpraktikern, und auch unter solchen, die sich auf Homöopathie spezialisiert haben, beispielsweise bei unseren Führungen im IGM, Einige, die ein durchaus noch ungeklärtes Verhältnis zur Esoterik und zu Richtungen haben, die ich mit meiner eher rationalistischen Art etwas schwer nachvollziehbar finde. Vermutlich ist die mühselige Erarbeitung homöopathischer Arzneimittelkenntnisse unter den Möglichkeiten, die man in einer Heilpraktiker-Ausbildung hat, also das Eine oder das Andere zu wählen, auch nicht gerade der leichtere Weg. Und Viele neigen bekanntlich zu leichteren Wegen. Ich habe also ambivalente Eindrücke, was die Heilpraktiker angeht.

Stefan Reis: Aber kann man solche Eindrücke nicht auch in weiten Kreisen der homöopathischen Ärzteschaft bekommen, also gerade die Hinwendung zu esoterischen Inhalten oder Aspekten der Homöopathie? Ich finde das System der Homöopathie grundsätzlich sehr anfällig für reaktionäre Denkweisen.

Professor Dr. Martin Dinges: Ich weiß nicht, ob es das System der Homöopathie ist. Hahnemann selbst ist ja letztlich ein pragmatischer Rationalist gewesen, der zwar auch inspiriert war von Denkmotiven der Romantik, wie Frau Kuzniar (8) sehr schön gezeigt hat, aber er war auch ein rationaler Patientenbeobachter und Therapeut, auch wenn er mit der Miasmenlehre versucht hat, Dinge zusammenzufassen, die schwer zusammenzufassen waren und sich die Lebenskraft als eine Art Letzterklärung für die Selbstheilungskräfte des Körpers durch den Kopf gehen lassen. Ich habe daher eher den Eindruck, dass die individualgeschichtliche Entscheidung eines Arztes oder eines Menschen für die Homöopathie – ich nenne jetzt mal die Ärzte, die in gewisser Weise immer einen Bruch zu einer naturwissenschaftlichen Ausbildung vollziehen, – die Bereitschaft erhöht, sich auch für andere alternative Angebote – also, ob das Irisdiagnose oder Naturheilverfahren, oder jungianische Tiefenpsychologie oder Anderes sei – zu öffnen. Das erhöht wiederum eine Sensibilität und eine Bereitschaft für Denksysteme, die dann meinetwegen auch ins Esoterische gehen können. Aber ich würde das nicht der Homöopathie zuschreiben, sondern eher individuellen Entwicklungsgängen, die man zum Teil übrigens auch in den Ärztenachlässen beobachten kann, die wir im IGM aufbewahren.

Stefan Reis: Wenn ich die Entwicklung der Homöopathie nach Hahnemann betrachte, meine ich, dass insbesondere die Implementierung der Denkweise eines Swedenborg den Einfluss eines heute so genannten esoterischen Gedankengutes begünstigte. Und auch spätere, einzelne homöopathische Richtungen haben mit Hahnemann nur noch sehr wenig zu tun, und diese modernen Richtungen basieren auf einzelnen Initiatoren, die dann der jeweiligen Richtung auch ihren Namen gaben und das sind durchweg Ärzte. Ich kenne auch einige Gruppen von Ärzten, für die die Hinwendung zu solchen Richtungen offenbar extrem attraktiv ist, mehr noch als in weiten Teilen der Heilpraktiker.

Professor Dr. Martin Dinges: Ich habe die Hinwendung zur Esoterik auch nicht nur auf die Heilpraktiker beziehen wollen, aber der Weg von einer ganz stark naturwissenschaftlichen Prägung, wie das bei Ärzten häufig der Fall ist, hin zur Esoterik, scheint mir ein bisschen weiter zu sein.

Stefan Reis: Eine weitere Frage betrifft ggf. die „medizinischen Laien„, und damit meine ich nicht die Heilpraktiker. Nach meiner Einschätzung spielten die (z.B. organisiert in Patientenvereinen wie der "Hahnemannia") über etliche Jahre eine entscheidende Rolle, was die Bewahrung der Homöopathie im Bewusstsein der Bevölkerung betraf. Wie schätzen Sie die Rolle dieses Personenkreises ein? Hätte die Homöopathie ohne diese in Deutschland überhaupt „überleben“ können?

Professor Dr. Martin Dinges: Ich bleibe nach wie vor der Ansicht, dass die Doppelorientierung von Menschen, die sagen "ich will mich einerseits auf fachlichen Rat von Ärzten oder Heilpraktikern stützen und andererseits will ich mich selber kompetent machen um zu kapieren, wie ich mir bei Standardproblemen selbst helfen kann", eine gute Grundhaltung ist. Da haben Laienvereine also durchaus ihren Platz. Ich meine auch, dass man neben den Gesundheitsinformationen, die sich nicht immer auf spezielle Krankheiten beziehen sollten und die auch neue Ängste schüren, wie in unseren zahllosen Gesundheitsmagazinen, eine andere Gesundheitsinformation – sozusagen im Bekanntenkreis – organisieren kann. Das kann durchaus ein Modell sein, wie man mit seinen Gesundheitsproblemen umgeht. Man muss auch nicht immer in die Spezialgruppe für seine Krankheit, was ja heute der übliche Patientenverein ist. Klar ist aber auch, dass in einer Umgebung, in der das Fernsehen seit den 1960er Jahren Gesundheitsaufklärung in einem viel zu sehr ärzte- und pharmaorientierten Sinn betreibt, die Gesundheitsaufklärung im Verein unter Konkurrenzdruck geraten ist und das gilt natürlich in verstärkter Weise für das Internet.

Stefan Reis: Das hört sich an nach einem Plädoyer für mehr Selbstverantwortung oder auch Mut zur Selbstbehandlung.

Professor Dr. Martin Dinges: Na ja, was heißt schon Selbstbehandlung? Sie wissen ja so gut wie ich, dass die allermeisten Fälle, in denen es Einem schlecht geht, behandelt werden, indem man erst einmal etwas Vernünftiges macht wie Schlafen, weniger Trinken, weniger Essen, einen Spaziergang und ähnliche Dinge, um dem Körper ein wenig Ruhe und Entspannung zu ermöglichen. Oder man behandelt sich – z.B. mit einem Tee bei Erkältungen oder anderen Hausmitteln selber. Dann gibt's natürlich den nächsten Schritt, indem man Arzneien nimmt und bis man dann in der Apotheke oder beim Fachmann landet, ist es ja ein langer Weg.

Stefan Reis: Aber ich habe den Eindruck, dass man eine hohe Eigenverantwortung für die Gesundheit heute eigentlich nicht mehr beabsichtigt bei der Gesundheitsinformation der Bürger, sondern den Patienten möglichst schnell in fachliche Hände zu manövrieren versucht.

Professor Dr. Martin Dinges: Das mag sein, aber wenn Sie mit Ärzten oder Heilpraktikern reden, dann werden Sie häufig hören, dass die Leute dort mit ganz anderen Bedürfnissen auftauchen. Das ist übrigens auch mein Eindruck, wenn ich in eine Praxis gehe. Es gibt den Bedarf, sich zu unterhalten, weil man vielleicht allein ist. Natürlich sagen einem auch Ärzte, dass viele Patienten besser nur einmal im Quartal kommen sollten statt dreimal, weil man dann genug Zeit hätte, vernünftig mit ihnen zu reden. Und es gibt die fatale Tendenz, immer sofort in die Notaufnahme von Kliniken zu laufen. Aber wir haben auch gar keine vernünftige Gesundheitsbildung in diesem Lande. Im Grunde genommen ist das, was im Fernsehen läuft, eher beunruhigend oder Kritik an Fehlleistungen des Gesundheitssystems. Es gibt aber wenig Impulse, die der Selbstermächtigung der Leute dienen. Ganz banal: Mehr Bewegung, vernünftigere Ernährung, weniger rauchen – das wäre eine Gesundheitsaufklärung, die wirklich an den Punkten ansetzt, die ernsthafte Erkrankungen verhindern helfen.

Stefan Reis: Lieber Professor Dinges, ganz herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch.

Anmerkungen

(1) Professor Dr. phil. Martin Dinges, begann seine Arbeit im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Archivar und wurde 1997 zudem dessen stellvertretender Leiter. In Homöopathiekreisen wird er geschätzt als eloquenter Redner, aber auch für seine ebenso interessanten wie wichtigen historischen Werke (eine Übersicht findet man hier. Neben der Homöopathie befasst er sich zum Beispiel mit hochaktuellen Genderthemen.
(2) Im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart (IGM) wird schwerpunktmäßig die Geschichte der Homöopathie beforscht. Neben der umfangreichen Bibliothek bewahrt das IGM die Nachlässe berühmter Homöopathen auf, allen voran die von Samuel Hahnemann und Clemens von Bönninghausen. Besonders zu erwähnen sind hier die Krankenjournale Hahnemanns, von denen einige transkribiert und publiziert wurden, sowie eine umfangreiche Sammlung weiterer Handschriften, die auch bereits Gegenstand mehrerer Veröffentlichungen waren. Ein Bericht über einen Besuch im IGM erscheint im Newsletter 49 des VKHD.
(3) Jütte, Robert: Samuel Hahnemann, Begründer der Homöopathie. DTV, München 2005
(4) Dinges, M. u. Holzapfel, K.: Kommunikation zwischen Samuel Hahnemann und seinen Patienten. Zeitschrift für Klassische Homöopathie 62 (2018), 04, 171-183
(5) Schroers, Fritz D.: Lexikon deutschsprachiger Homöopathen. Haug Verlag, Stuttgart 2006
(6) Walther, Daniel: Die Suche nach der richtigen Medizin - warum wenden sich Ärzte und Heilpraktiker der Homöopathie zu? Medizin, Gesellschaft und Geschichte: MedGG 36 (2018), S. 207 - 255
(7) Bönninghausen, Clemens v.: Systematisch-Alphabetisches Repertorium der antipsorischen / nicht antipsorischen Arzneien. Münster 1832/35.
(8) Kuzniar, Alice A.: The Birth of Homeopathy out of the Spirit of Romanticism, University of Toronto Press, 2017
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