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Milch kann MS-Symptome verstärken

Milch kann MS-Symptome verstärken Milch kann MS-Symptome verstärken Fotolia.com #1988750 © Goffkein
Menschen mit Multipler Sklerose (MS) klagen nach dem Konsum von Milchprodukten oft über stärkere Krankheitssymptome. Forschende haben einen möglichen Grund dafür gefunden. Demnach kann ein Protein der Kuhmilch Entzündungen auslösen, die sich gegen die „Isolierschicht“ um die Nervenzellen richten. Die Studie konnte diesen Zusammenhang in Mäusen nachweisen, fand aber auch Hinweise auf einen ähnlichen Mechanismus in Menschen.


Auslöser der Studie [1] waren Berichte von MS-Patientinnen und -Patienten, die anmerkten, dass es ihnen nach dem Konsum von Milch, Quark oder Joghurt schlechter geht. Die Forschenden wollten daher der Ursache für diesen Zusammenhang auf den Grund gehen.

Dazu haben sie Mäusen verschiedene Proteine aus der Kuhmilch injiziert, um herauszufinden, ob es einen Bestandteil gibt, auf den sie mit Krankheitssymptomen reagieren. Tatsächlich wurden die Forschenden fündig: Wenn sie den Tieren den Kuhmilch-Inhaltsstoff Casein zusammen mit einem Wirkverstärker verabreichten, entwickelten die Mäuse danach neurologische Störungen. Unter dem Elektronenmikroskop zeigte sich, dass bei ihnen die Myelinschicht um die Nervenfasern geschädigt war. Die fettähnliche Substanz verhindert Kurzschlüsse und beschleunigt zusätzlich erheblich die Reizweiterleitung.


Durchlöcherte Myelinschicht

Bei Multipler Sklerose zerstört das körpereigene Immunsystem die Myelin-Ummantelung. Die Folgen reichen von Missempfindungen über Probleme beim Sehen bis hin zu Bewegungsstörungen. Im Extremfall hilft den Betroffenen ein Rollstuhl.

Auch in den Mäusen war die isolierende Hülle massiv durchlöchert – offensichtlich ausgelöst durch die Casein-Gabe. Als Grund vermuteten die Forschenden ähnlich wie in MS-Kranken eine fehlgeleitete Immunreaktion. Die körpereigene Abwehr attackiert eigentlich das Casein, zerstört dabei aber auch Proteine, die an der Bildung des Myelins beteiligt sind.

Zu einer solchen Kreuzreaktivität kann es kommen, wenn sich zwei Moleküle zumindest in Teilen sehr ähneln. Das Immunsystem verwechselt sie dann gewissermaßen miteinander. Die Wissenschaftler haben das Casein mit verschiedenen Molekülen verglichen, die für die Produktion von Myelin wichtig sind. Dabei sind sie auf ein Eiweiß namens MAG gestoßen. Es sieht dem Casein in manchen Bereichen ausgesprochen ähnlich – so sehr, dass bei den Versuchstieren die Antikörper gegen Casein ebenfalls gegen MAG aktiv waren.

In den mit Casein behandelten Mäusen richtete sich die körpereigene Abwehr also auch gegen MAG, wodurch das Myelin destabilisiert wird. Doch inwieweit lassen sich die Ergebnisse auf Menschen mit MS übertragen? Um diese Frage zu beantworten, gaben die Forschenden Casein-Antikörper von Mäusen zu menschlichem Hirngewebe. Tatsächlich reicherten sie sich dort an den Zellen an, die im Gehirn für die Myelin-Produktion verantwortlich sind.


Selbsttest auf Antikörper gegen Casein

Für die Antikörperproduktion sind bestimmte weiße Blutkörperchen zuständig, die B-Zellen. Die B-Zellen im Blut von MS-Kranken sprechen der Studie zufolge besonders stark auf Casein an. Vermutlich haben die Betroffenen irgendwann durch den Konsum von Milch eine Allergie gegen Casein entwickelt. Sobald sie nun Frischmilchprodukte zu sich nehmen, stellt das Immunsystem daher massenhaft Casein-Antikörper her. Diese schädigen aufgrund der Kreuzreaktivität mit MAG auch die Myelinschicht um die Nervenfasern.

Davon sind allerdings nur MS-Kranke betroffen, die gegen Kuhmilch-Casein allergisch sind. Die Wissenschaftler*innen entwickeln momentan einen Selbsttest, mit dem Betroffene überprüfen können, ob sie entsprechende Antikörper in sich tragen. Zumindest diese Subgruppe sollte auf den Konsum von Milch, Joghurt oder Quark verzichten, so die Studienautor*innen.

Möglicherweise erhöht Kuhmilch auch bei Gesunden das Risiko, an MS zu erkranken. Denn auch bei ihnen kann Casein Allergien auslösen – das ist vermutlich gar nicht einmal so selten. Sobald eine solche Immunantwort besteht, kann es theoretisch zu einer Kreuzreaktivität mit dem Myelin kommen. Das bedeute allerdings nicht, dass sich bei einer Überempfindlichkeit gegen Casein zwangsläufig eine Multiple Sklerose entwickle, betonen die Studienautor*innen. Dazu seien vermutlich noch weitere Risikofaktoren erforderlich. Beunruhigend sei dieser Zusammenhang dennoch: Studien zufolge seien die MS-Zahlen in Bevölkerungsgruppen erhöht, in denen viel Kuhmilch konsumiert wird.


Kaliumkanäle als Strategie, um Nervenzellen vor Entzündung und Entmarkung zu schützen

Eine weitere, ganz aktuell publizierte Studie [2] hat Kaliumkanäle entlang der Nervenfasern im ZNS als mögliche Angriffspunkte identifiziert, um gefährdete Neuronen gegen die entzündliche Demyelinisierung im Zuge der MS zu wappnen. Dieser Ansatz beruht auf einer bisher unbewiesenen Hypothese, dass ein Hauptfaktor für die Nervenschädigung bei MS eine chronische Übererregbarkeit der Nervenzellen ist: In Tiermodellen der MS und anderen In vivo-Modellen der De- und Remyelinisierung häufen sich Hinweise, dass anfällige Neuronen im Laufe der Zeit aufgrund einer metabolischen Erschöpfung zugrunde gehen, die durch eine chronische Übererregbarkeit verursacht wird. Die Erregbarkeit von Nervenzellen zu normalisieren erscheint daher als erfolgversprechende Strategie, um Neurodegeneration zu verhindern.

Die erhöhte Erregbarkeit von Nervenzellen ist wahrscheinlich die Folge verschiedener Faktoren, die die Schwelle für die Erzeugung von Aktionspotenzialen im Zusammenhang mit der chronisch-entzündlichen Demyelinisierung senken. Ein Ionenungleichgewicht, das es zu normalisieren gilt, könnte daher ein interessantes therapeutisches Ziel bei MS sein.

Die die Axone der Nervenzellen umkleidende Myelinschicht wird in regelmäßigem Abstand durch sogenannte Ranvier’sche Schnürringe unterbrochen. Sie dienen der schnelleren Weiterleitung elektrischer Erregungen. Da Kaliumkanäle eine wichtige Rolle dabei spielen, die Erregbarkeit von Nervenzellen an und um die Ranvier’schen Schnürringe zu regulieren, nahmen die Wissenschaftler*innen die entsprechenden Kanäle genauer unter die Lupe: auswärts-gleichrichtende Kaliumkanäle (Kv-Kanäle) der Axone, die Kaliumionen überwiegend von innen nach außen durch die Zellmembran leiten, und einwärts-gleichrichtende Kaliumkanäle (Kir-Kanäle) der die Myelinschicht der Nervenzellen bildenden Oligodendrozyten, die Kaliumionen überwiegend von extrazellulär nach intrazellulär leiten.

Untersuchungen zur räumlichen und funktionellen Beziehung zwischen Kv7-Kanälen und Kir4.1-Kanälen im gesunden Zustand und unter entzündlich-demyelinisierenden Bedingungen konnten zeigen, dass die Regulation beider Kanäle bei MS und im experimentellen Tiermodell gestört ist. Einen positiven Effekt zeigte die Gabe von Retigabin, eines Wirkstoffs, der spezifisch Kv7-Kanäle öffnet. Das ursprünglich für die Epilepsie entwickelte Medikament Retigabin reduzierte die Übererregbarkeit der Nervenzellen bei Mensch und Tier und verbesserte zumindest im Tiermodell die klinischen Symptome.

Die Ergebnisse der Wissenschaftler deuten darauf hin, dass kompensatorische Interaktionen zwischen Neuronen und Oligodendrozyten durch Kv7- und Kir4.1-Kanäle die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von geschädigten Nervenzellen fördern und eine medikamentöse Aktivierung von Kv7-Kanälen eine vielversprechende Strategie sein könnte, um Nervenzellen vor der entzündlichen Demyelinisierung zu schützen.


Originalpublikationen

  1. Rittika Chunder et al. Antibody cross-reactivity between casein and myelin-associated glycoprotein results in central nervous system demyelination with implications for the immunopathology of multiple sclerosis; PNAS; DOI: https://doi.org/10.1073/pnas.2117034119
  2. Hannah Kapell et al. Neuron-oligodendrocyte potassium shuttling at nodes of Ranvier protects against inflammatory demyelination. Journal of Clinical Investigation (JCI) 2023; 133 (7). https://doi.org/10.1172/JCI164223
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